Warum ist „Die Schöpfung“ so beliebt?
Seit ihrer Entstehung gehört Joseph Haydns „Die Schöpfung“ zu den beliebtesten Oratorien in ganz Europa. Offensichtlich fasziniert ihre Musik mit ihrer sich so überzeugend ergänzenden Anmut und Erhabenheit.
Die Chöre bilden die tragenden Säulen, die Solisten führen bestens nachvollziehbar durch das Geschehen, das Orchester ist in Bezug auf Besetzung und Dynamik höchst differenziert eingesetzt. Kein ambitionierter Chor, der „Die Schöpfung“ nicht in seinem Standartprogramm führt; auch in Mannheim ist sie schon im 19. Jahrhundert das am meisten aufgeführte Oratorium.
Joseph Haydn wurde bei seinem 2. Englandaufenthalt 1794/95 zu der Komposition angeregt. Nach seiner Rückkehr nach Wien übergab er seinem Förderer Baron von Swieten eine (nicht mehr erhaltene, möglicherweise ursprünglich für Händel bestimmte) englische Textvorlage zur Übersetzung, die Haydn dann vertonte. 1798 ist die Partitur fertig, der Text wird ins Englische rückübersetzt und das Werk erscheint zweisprachig. Haydn dirigiert 1998 die Uraufführung, am Flügel sitzt Salieri, die musikalische Hautevolee Wiens ist anwesend. „Die Schöpfung“ tritt ihren Siegeszug an.
Über weite Teile folgt das Oratorium den Worten des großen biblischen Schöpfungsliedes (1. Mose/Genesis 1), wie Gott in sieben Tagen die Welt erschafft. Sie werden ergänzt durch freie Dichtungen und Zitate aus den biblischen Psalmen. Die Ouvertüre stellt das die Schöpfung ersehnende Chaos vor; abwechselnd erzählen dann Erzengel davon, wie Tag für Tag Neues entsteht. Jeweils eingefügt sind lyrische, betrachtende Abschnitte und große Chöre, die das Lob des Schöpfers besingen. Der zweite Teil erzählt von der Erschaffung der Tiere, und als Krönung die der Menschen. Im dritten Teil loben Eva und Adam zusammen mit dem Chor das Geschaffene, Gott als den Schöpfer und fordern ihre Umgebung auf, es ihnen gleich zu tun. Alles mündet in den großen Schlusschor: „Des Herren Ruhm, er bleibt in Ewigkeit! Amen!“
Die Rolle des Testo (Erzähler) teilen sich drei aus den späten biblischen und nachbiblischen Schriften bekannte Erzengel. Bis heute ist Gabriel als Bote Gottes z.B. bei der Ankündigung der Geburt Jesu an Maria der bekannteste von ihnen, interessanterweise bei Haydn für Sopran komponiert, was vor seiner Zeit eigentlich noch undenkbar war. Auch der Chor singt an vielen Stellen als Engelchor. Damit haben Librettist und Komponist zugleich genial verhindert, menschliche Wesen vor ihrer Erschaffung auftreten zu lassen,
Niemand wird nach einem intensiven Erleben der „Schöpfung“ die tonmalerischen Passagen des Werkes vergessen können. Haydn setzt die Natur, das Licht, die Stürme, Blitz und Donner, den flockigen Schnee oder die schäumenden Wellen genauso wie die verschiedenen Tiere mit musikalischen Mitteln um. Dabei erscheint zuerst in der Musik, was dann von den Erzengeln beschrieben wird. Wir hören zuerst die rollenden Donner, die fliegenden Wolken, den allerquickenden Regen, bevor sie genannt werden. Herders Kritik, Musik solle sich nicht bei Gegenständen malend aufhalten, sondern Empfinden aussprechen, hat die Begeisterung über Haydns Tonmalereien nicht trüben können.
Dies gilt zurecht in ganz besonderer Weise für „die Vorstellung des Chaos“ am Beginn des Oratoriums. Wie soll das Chaos vor der Schöpfung „vorgestellt“ werden, wenn noch nichts ist? Haydn schafft, was ein kompositorisches Wunder genannt werden muss. Ein Kritiker der Berliner Erstaufführung schreibt 1801: „Ein ungeheurer Unisonus aller Instrumente, gleich einem licht- und formlosen Klumpen, stellt sich der Imagination dar. Aus ihm gehen einzelne Töne hervor, die neue gebären. Es entspinnen sich Formen und Figuren, ohne Faden und Ordnung, die wieder verschwinden, um in anderer Gestalt wieder zu erscheinen. Mächtige Massen reiben sich aneinander und bringen Gärung hervor, die sich hier und dort in Harmonie auflöst und in neues Dunkel versinkt. Ein Schwimmen und Wallen unbekannter Kräfte, die sich nach und nach absondern und einige klare Lücken lassen, verkündigen den nahen Ordner. Es ist Nacht.“
Haydns „Schöpfung“ dient der Verherrlichung Gottes und genauso der des ersten Menschenpaares. Würde, Hoheit, Schönheit, Stärke und Mut sind die Kennzeichen. Der Mensch nicht als „krummes Holz“, als sündiges und erlösungsbedürftiges Wesen, sondern als wunderbare Krone einer wunderbaren Schöpfung. Das ist das Idealbild von Welt und Mensch im 18./19. Jahrhundert, der Aufklärung. Das geistesgeschichtlich so bedeutende Erdbeben von Lissabon 1755 ist noch nicht wahrgenommen; Sigmund Freud entwickelt erst 100 Jahre später seine dieses Ideal so scharf infrage stellende Psychoanalyse. Das Libretto der „Schöpfung“ bricht vor dem „Sündenfall“ ab (1. Mose/Genesis 3)!! Bei Haydn ist der Mensch die rundum bewundernswerte Krone der Schöpfung. Besonders wenn die Beziehung Mann – Frau thematisiert wird, ist das Menschen- und Eheverständnis der Zeit überdeutlich zu spüren: das höchste Glück des Mannes, die Frau zu leiten, das größte Glück der Frau, ihm zu folgen!!
Solche Kritik fordert die notwenige eigene Demut, wenn wir Überliefertes deuten, und öffnet den Blick auf das Gesamtwerk, sich mit von Swieten und Haydn an der so wunderbaren Schöpfung zu freuen, den Schöpfer zu loben und in der Liebe zu finden suchen.
Hartmut Greiling