Werkeinführung

Mitreißende Festfreude und stille Weihnacht

Benjamin Britten, A Ceremony of Carols und  Camille Saint–Saëns, Oratorio de Noël

 

Auf den ersten Blick verbindet zunächst eigentlich nur die herausgehobene Rolle der Harfe die beiden heute musizierten Werke zur Weihnachtszeit; ihre innere Beziehung zueinander und Kompatibilität wird aber beim Musizieren und Hören unmittelbar erlebbar.

Benjamin Britten (1913–1976) vertont in seiner A Ceremony of Carols altenglische Gedichte zur Weihnachtszeit aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Den Grundbestand komponiert er 1942 mitten im 2. Weltkrieg auf einer Schiffsreise von Amerika in seine englische Heimat; den Chor legt er für 3 Knabenstimmen aus. Der große Erfolg des Werkes veranlasst den Verlag mit Zustimmung Brittens, Julius Harrison mit einer Einrichtung für gemischten Chor zu beauftragen. In dieser Fassung von 1955 erklingt das Werk heute.

Die von Britten einer Gedichtsammlung entnommenen Texte bilden einen wahrhaft bunten Strauß und er vertont sie ganz ihrer jeweiligen Intention entsprechend. Die Bandbreite reicht von lyrisch-zart (z.B. There is no Rose Nr. 3; As dew in Aprille Nr. 5) über volkstümlich-munter (z.B. Wolcum Yole! Nr. 2; Balulalow Nr. 4b) und spritzig englischen Humor (Deo Gratias) bis zur heimlich mitschwingenden Freude an einer die traditionelle kirchliche Marienfrömmigkeit auf den Kopf stellende Theologie. Aus all dem formt Britten eine musikalische Einheit fröhlicher und zugleich besinnlicher Weihnachtsfreude. Die Rahmung der Lieder mit dem altkirchlichen und gregorianisch gestalteten Hodie Christus natus est zeigt Brittens Ehrerbietung vor der musikalischen und kirchlichen Tradition. Umso deutlicher kann er zugleich das ganze Werk mit seiner eigenen, unverwechselbaren Musik-Sprache formen.

Die Harfe ist wohl eher zufällig Begleitinstrument geworden, weil Britten zeitgleich mit der Ceremony an einem Harfenkonzert arbeitet (und nie vollendet). Diese Wahl erweist sich aber als besonders glücklich, weil das Weihnachtliche damit für alle Musizierenden und Hörenden unmittelbar erlebbar wird. Jedes Lied in Brittens A Ceremony of Carols: ein filigranes, bezauberndes Kleinod für den Weihnachtsfestkreis; das ganze Werk eine mitreißende und innige Gestalt des Weihnachtsjubels: Hodie Christus natus est – heute ist Christus geboren!

Camille Saint–Saëns (1835 – 1921) präsentiert eine Frühform seines Oratorio de Noël, seines  „Weihnachtsoratoriums“, 1858 als gerade einmal 23jähriger als erste Komposition an seiner neuen Stelle als Organist an der Kirche La Madeleine in Paris. Er legt dem Werk durchgehend Bibeltexte aus der Weihnachtsliturgie seiner Zeit zugrunde, so dass die Musik möglicherweise auch zuerst in einem Weihnachtsgottesdienst erklungen ist. Zwei Jahre später schließt Saint–Saëns die Komposition ab, die offizielle Uraufführung findet erst 1869 statt.

Es ist gut belegt, dass Saint–Saëns als Abonnent der Neuherausgabe des Gesamtwerks von J. S. Bach auch dessen Weihnachtsoratorium bestens kannte. Er übernimmt offensichtlich den Titel bewusst und imitiert im Prélude „dans le style de Séb. Bach“ sogar ausdrücklich dessen Hirtenmusik (Sinfonia) vom Beginn der zweiten Kantate. Das bedeutet aber eben nicht, alles genauso wie Bach zu machen, sondern Charakteristika des alten Meisters mit der modernen Musiksprache zu verbinden.

Saint–Saëns gestaltet sein Oratorium ausgesprochen abwechslungsreich, auch in Bezug auf die jeweilige solistische Besetzung. Dabei trägt die wieder prominent eingesetzte Harfe in großem Maße zu einer weitgehend poetisch-idyllischen Stimmung bei. Es erklingt eine im besten Sinne „schöne“ Musik, die romantische Grundströmung der Zeit ist nicht zu überhören. Der einzige Satz mit einer nicht so lyrischen Stimmung ist der sechste, die Worte aus Psalm 2 legen das auch nahe: „Warum toben die Heiden?“. Eine unruhige, dramatischere Atmosphäre entsteht,  Das liturgisch zu jedem Psalm gehörende „Ehre sei dem Vater“ ist dann schon wieder als Piano komponiert und mündet im Pianissimo. Ob in einer lauten Welt eine stille Weihnacht viel angemessener ist als eine, die das Laute noch übertönen möchte? Auch die überwiegend zu „moderaten“ Tempi auffordernden Angaben des Komponisten zeigen in dieselbe Richtung. Der Schluss des Oratoriums erinnert fast noch einmal an J.S. Bach: ein kurzer, kompakt gesetzter Choral in der Art der Schlusschöre der Bachkantaten.

So vereinen sich innige, mitreißende Erwartung und Festfreude bei Britten und stille Weihnacht bei Saint–Saëns wie die beiden Seiten einer Münze zu einer überzeugenden Einheit in ihrer Deutung der Feier der Menschwerdung Gottes.

Hartmut Greiling