Kategorie-Archiv: Allgemein

Werkeinführung

Dietrich Buxtehude (1637 – 1707), Das Jüngste Gericht

Mannheimer Erstaufführung des von Ton Koopmann historisch verlässlich neu edierten Meisterwerks

„Das Jüngste Gericht“: ein weithin noch unbekannter Meilenstein in der Geschichte geistlicher Abendmusiken und Oratorienkunst. Dietrich Buxtehude begründet in Lübeck nach ersten Versuchen seines Vorgängers und Schwiegervaters Franz Tunder und angeregt durch Vergleichbares in Hamburg die neue Gattung „Geistliche Abendmusik“, bei denen zusammenhängende geistliche Musik für Orchester, Chor und Solostimmen zur Aufführung kommt. Damit ist das Grundmodell der späteren Oratorien geschaffen.

Leider sind nur einige Titel der Werke überliefert, die damals von Buxtehude komponiert und aufgeführt wurden. Als man im letzten Jahrhundert eine unsignierte Partitur in der Universitätsbibliothek Uppsala entdeckt, ordnet Willy Maxton sie mit guten Gründen Dietrich Buxtehude zu, ergänzt seiner Meinung nach Fehlendes aus anderen Kompositionen Buxtehudes und gibt dem Werk den heutigen Titel. Ton Koopmann hat das Werk jüngst ganz eng an der vorgefundenen Partitur orientiert neu herausgegeben.

Die derbe Sprache des Werkes zur Beschreiung des Bösen in der Welt und des Geschicks der Verdammten überschreitet an vielen Stellen für heutige Empfindungen das zulässige Maß. Ähnliches gilt für die an Jesus gerichteten Liebeserklärungen, wenn sie immer wieder mit kräftigen moralischen Appellen verknüpft sind.  Der zeitgeschichtliche Hintergrund (die Schrecken der Konfessionskriege der vergangenen 150 Jahre und die aufkommenden Bewegungen der Aufklärung und des Pietismus) mag dies erklären, kann aber den sprachlichen Abstand nicht überwinden.

Umso mehr erreicht die Musik in ihrer Klarheit, Direktheit und Phantasiefülle die Moderne! Dietrich Buxtehude beweist sich als der Großmeister zwischen Heinrich Schütz und Joh. Seb. Bach. Dur und Moll haben die Kirchentonarten verdrängt, der vom Orchester begleitete solistische Gesang ist etabliert; noch sind die Arien in Strophen komponiert; Orchester und Singstimmen musizieren gemeinsam und mit jeweils selbstständigen Passagen. Chor und Solostimmen treten in musikalische Dialoge. Die immer wieder aufgenommenen Choral-Strophen, z.B. von „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ sind höchst differenziert, passgenau zum jeweiligen Text komponiert und bilden eine Gesamtstruktur.

Für die historisch informierte Aufführung mit der Johanniskantorei am 20. November 2016 legt Kantorin Claudia Seitz in den Chorproben großen Wert auf die Realisierung des barocken Sing- und Sprachgestus. Der Chor arbeitet mit großem Eifer daran, die Farbigkeit und den Kontrastreichtum des Oratoriums zum Ausdruck zu bringen.

„Das Jüngste Gericht“ – ein Meisterwerk, das man nicht verpassen sollte; in den blumigen Worten des Schlusschores: „Menschenkinder, schnappet nach dem Schatten nicht. Kommet, erbet Himmelsherrlichkeiten!“

Werkeinführung „Die Schöpfung“

Warum ist „Die Schöpfung“ so beliebt?

Seit ihrer Entstehung gehört Joseph Haydns „Die Schöpfung“ zu den beliebtesten Oratorien in ganz Europa. Offensichtlich fasziniert ihre Musik mit ihrer sich so überzeugend ergänzenden Anmut und Erhabenheit.

Die Chöre bilden die tragenden Säulen, die Solisten führen bestens nachvollziehbar durch das Geschehen, das Orchester ist in Bezug auf Besetzung und Dynamik höchst differenziert eingesetzt. Kein ambitionierter Chor, der „Die Schöpfung“ nicht in seinem Standartprogramm führt; auch in Mannheim ist sie schon im 19. Jahrhundert das am meisten aufgeführte Oratorium.

Joseph Haydn wurde bei seinem 2. Englandaufenthalt 1794/95 zu der Komposition angeregt. Nach seiner Rückkehr nach Wien übergab er seinem Förderer Baron von Swieten eine (nicht mehr erhaltene, möglicherweise ursprünglich für Händel bestimmte) englische Textvorlage zur Übersetzung, die Haydn dann vertonte. 1798 ist die Partitur fertig, der Text wird ins Englische rückübersetzt und das Werk erscheint zweisprachig. Haydn dirigiert 1998 die Uraufführung, am Flügel sitzt Salieri, die musikalische Hautevolee Wiens ist anwesend. „Die Schöpfung“ tritt ihren Siegeszug an.

Über weite Teile folgt das Oratorium den Worten des großen biblischen Schöpfungsliedes (1. Mose/Genesis 1), wie Gott in sieben Tagen die Welt erschafft. Sie werden ergänzt durch freie Dichtungen und Zitate aus den biblischen Psalmen. Die Ouvertüre stellt das die Schöpfung ersehnende Chaos vor; abwechselnd erzählen dann Erzengel davon, wie Tag für Tag Neues entsteht. Jeweils eingefügt sind lyrische, betrachtende Abschnitte und große Chöre, die das Lob des Schöpfers besingen. Der zweite Teil erzählt von der Erschaffung der Tiere, und als Krönung die der Menschen. Im dritten Teil loben Eva und Adam zusammen mit dem Chor das Geschaffene, Gott als den Schöpfer und fordern ihre Umgebung auf, es ihnen gleich zu tun. Alles mündet in den großen Schlusschor: „Des Herren Ruhm, er bleibt in Ewigkeit! Amen!“

Die Rolle des Testo (Erzähler) teilen sich drei aus den späten biblischen und nachbiblischen Schriften bekannte Erzengel. Bis heute ist Gabriel als Bote Gottes z.B. bei der Ankündigung der Geburt Jesu an Maria der bekannteste von ihnen, interessanterweise bei Haydn für Sopran komponiert, was vor seiner Zeit eigentlich noch undenkbar war. Auch der Chor singt an vielen Stellen als Engelchor. Damit haben Librettist und Komponist zugleich genial verhindert, menschliche Wesen vor ihrer Erschaffung auftreten zu lassen,

Niemand wird nach einem intensiven Erleben der „Schöpfung“ die tonmalerischen Passagen des Werkes vergessen können. Haydn setzt die Natur, das Licht, die Stürme, Blitz und Donner, den flockigen Schnee oder die schäumenden Wellen genauso wie die verschiedenen Tiere mit musikalischen Mitteln um. Dabei erscheint zuerst in der Musik, was dann von den Erzengeln beschrieben wird. Wir hören zuerst die rollenden Donner, die fliegenden Wolken, den allerquickenden Regen, bevor sie genannt werden. Herders Kritik, Musik solle sich nicht bei Gegenständen malend aufhalten, sondern Empfinden aussprechen, hat die Begeisterung über Haydns Tonmalereien nicht trüben können.

Dies gilt zurecht in ganz besonderer Weise für „die Vorstellung des Chaos“ am Beginn des Oratoriums. Wie soll das Chaos vor der Schöpfung „vorgestellt“ werden, wenn noch nichts ist? Haydn schafft, was ein kompositorisches Wunder genannt werden muss. Ein Kritiker der Berliner Erstaufführung schreibt 1801: „Ein ungeheurer Unisonus aller Instrumente, gleich einem licht- und formlosen Klumpen, stellt sich der Imagination dar. Aus ihm gehen einzelne Töne hervor, die neue gebären. Es entspinnen sich Formen und Figuren, ohne Faden und Ordnung, die wieder verschwinden, um in anderer Gestalt wieder zu erscheinen. Mächtige Massen reiben sich aneinander und bringen Gärung hervor, die sich hier und dort in Harmonie auflöst und in neues Dunkel versinkt. Ein Schwimmen und Wallen unbekannter Kräfte, die sich nach und nach absondern und einige klare Lücken lassen, verkündigen den nahen Ordner. Es ist Nacht.“

Haydns „Schöpfung“ dient der Verherrlichung Gottes und genauso der des ersten Menschenpaares. Würde, Hoheit, Schönheit, Stärke und Mut sind die Kennzeichen. Der Mensch nicht als „krummes Holz“, als sündiges und erlösungsbedürftiges Wesen, sondern als wunderbare Krone einer wunderbaren Schöpfung. Das ist das Idealbild von Welt und Mensch im 18./19. Jahrhundert, der Aufklärung. Das geistesgeschichtlich so bedeutende Erdbeben von Lissabon 1755 ist noch nicht wahrgenommen; Sigmund Freud entwickelt erst 100 Jahre später seine dieses Ideal so scharf infrage stellende Psychoanalyse. Das Libretto der „Schöpfung“ bricht vor dem „Sündenfall“ ab (1. Mose/Genesis 3)!! Bei Haydn ist der Mensch die rundum bewundernswerte Krone der Schöpfung. Besonders wenn die Beziehung Mann – Frau thematisiert wird, ist das Menschen- und Eheverständnis der Zeit überdeutlich zu spüren: das höchste Glück des Mannes, die Frau zu leiten, das größte Glück der Frau, ihm zu folgen!!

Solche Kritik fordert die notwenige eigene Demut, wenn wir Überliefertes deuten, und öffnet den Blick auf das Gesamtwerk, sich mit von Swieten und Haydn an der so wunderbaren Schöpfung zu freuen, den Schöpfer zu loben und in der Liebe zu finden suchen.

Hartmut Greiling

Werkeinführung

Mitreißende Festfreude und stille Weihnacht

Benjamin Britten, A Ceremony of Carols und  Camille Saint–Saëns, Oratorio de Noël

 

Auf den ersten Blick verbindet zunächst eigentlich nur die herausgehobene Rolle der Harfe die beiden heute musizierten Werke zur Weihnachtszeit; ihre innere Beziehung zueinander und Kompatibilität wird aber beim Musizieren und Hören unmittelbar erlebbar.

Benjamin Britten (1913–1976) vertont in seiner A Ceremony of Carols altenglische Gedichte zur Weihnachtszeit aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Den Grundbestand komponiert er 1942 mitten im 2. Weltkrieg auf einer Schiffsreise von Amerika in seine englische Heimat; den Chor legt er für 3 Knabenstimmen aus. Der große Erfolg des Werkes veranlasst den Verlag mit Zustimmung Brittens, Julius Harrison mit einer Einrichtung für gemischten Chor zu beauftragen. In dieser Fassung von 1955 erklingt das Werk heute.

Die von Britten einer Gedichtsammlung entnommenen Texte bilden einen wahrhaft bunten Strauß und er vertont sie ganz ihrer jeweiligen Intention entsprechend. Die Bandbreite reicht von lyrisch-zart (z.B. There is no Rose Nr. 3; As dew in Aprille Nr. 5) über volkstümlich-munter (z.B. Wolcum Yole! Nr. 2; Balulalow Nr. 4b) und spritzig englischen Humor (Deo Gratias) bis zur heimlich mitschwingenden Freude an einer die traditionelle kirchliche Marienfrömmigkeit auf den Kopf stellende Theologie. Aus all dem formt Britten eine musikalische Einheit fröhlicher und zugleich besinnlicher Weihnachtsfreude. Die Rahmung der Lieder mit dem altkirchlichen und gregorianisch gestalteten Hodie Christus natus est zeigt Brittens Ehrerbietung vor der musikalischen und kirchlichen Tradition. Umso deutlicher kann er zugleich das ganze Werk mit seiner eigenen, unverwechselbaren Musik-Sprache formen.

Die Harfe ist wohl eher zufällig Begleitinstrument geworden, weil Britten zeitgleich mit der Ceremony an einem Harfenkonzert arbeitet (und nie vollendet). Diese Wahl erweist sich aber als besonders glücklich, weil das Weihnachtliche damit für alle Musizierenden und Hörenden unmittelbar erlebbar wird. Jedes Lied in Brittens A Ceremony of Carols: ein filigranes, bezauberndes Kleinod für den Weihnachtsfestkreis; das ganze Werk eine mitreißende und innige Gestalt des Weihnachtsjubels: Hodie Christus natus est – heute ist Christus geboren!

Camille Saint–Saëns (1835 – 1921) präsentiert eine Frühform seines Oratorio de Noël, seines  „Weihnachtsoratoriums“, 1858 als gerade einmal 23jähriger als erste Komposition an seiner neuen Stelle als Organist an der Kirche La Madeleine in Paris. Er legt dem Werk durchgehend Bibeltexte aus der Weihnachtsliturgie seiner Zeit zugrunde, so dass die Musik möglicherweise auch zuerst in einem Weihnachtsgottesdienst erklungen ist. Zwei Jahre später schließt Saint–Saëns die Komposition ab, die offizielle Uraufführung findet erst 1869 statt.

Es ist gut belegt, dass Saint–Saëns als Abonnent der Neuherausgabe des Gesamtwerks von J. S. Bach auch dessen Weihnachtsoratorium bestens kannte. Er übernimmt offensichtlich den Titel bewusst und imitiert im Prélude „dans le style de Séb. Bach“ sogar ausdrücklich dessen Hirtenmusik (Sinfonia) vom Beginn der zweiten Kantate. Das bedeutet aber eben nicht, alles genauso wie Bach zu machen, sondern Charakteristika des alten Meisters mit der modernen Musiksprache zu verbinden.

Saint–Saëns gestaltet sein Oratorium ausgesprochen abwechslungsreich, auch in Bezug auf die jeweilige solistische Besetzung. Dabei trägt die wieder prominent eingesetzte Harfe in großem Maße zu einer weitgehend poetisch-idyllischen Stimmung bei. Es erklingt eine im besten Sinne „schöne“ Musik, die romantische Grundströmung der Zeit ist nicht zu überhören. Der einzige Satz mit einer nicht so lyrischen Stimmung ist der sechste, die Worte aus Psalm 2 legen das auch nahe: „Warum toben die Heiden?“. Eine unruhige, dramatischere Atmosphäre entsteht,  Das liturgisch zu jedem Psalm gehörende „Ehre sei dem Vater“ ist dann schon wieder als Piano komponiert und mündet im Pianissimo. Ob in einer lauten Welt eine stille Weihnacht viel angemessener ist als eine, die das Laute noch übertönen möchte? Auch die überwiegend zu „moderaten“ Tempi auffordernden Angaben des Komponisten zeigen in dieselbe Richtung. Der Schluss des Oratoriums erinnert fast noch einmal an J.S. Bach: ein kurzer, kompakt gesetzter Choral in der Art der Schlusschöre der Bachkantaten.

So vereinen sich innige, mitreißende Erwartung und Festfreude bei Britten und stille Weihnacht bei Saint–Saëns wie die beiden Seiten einer Münze zu einer überzeugenden Einheit in ihrer Deutung der Feier der Menschwerdung Gottes.

Hartmut Greiling